Schmerzliche Grenzerfahrungen

  • Es wird nichts geworfen! Außer einer akustischen und optischen gibt es keine sonstige „Kommunikation“ mit dem Spielfeld. 
  • Was erleben wir hier? Verspätete Grenzerfahrungen.
  • Wer ist mitverantwortlich? Die Eltern und das soziale Umfeld während der Sozialisierung.
  • Wir erleben Schuld eines Einzelnen aber auch Schuld der Gruppe, sodass Strafen in beide Richtungen zu erwarten sind.
  • Ich befürworte keine Stadionverbote, man kann seine Kinder auch nicht vor die Tür setzen, wenn sie etwas anstellen, oder?
  • Nein, ich habe natürlich auch keine Lösung, aber Kreativität wäre beim Umgang mit den Problemzonen gefragt.

Wie war es bisher?

Die beiden Jahre im Happel-Stadion können wir in dieser Frage der Feuerzeugwürfe ausblenden. Aber ich erinnere mich gut, dass bei hitzigen Partien Ivica mit einem Ottakringer-Sonnenschirm in der Nord-West-Ecke des Hanappi-Stadions gestanden ist, um die Bier- und Feuerzeugdusche vom gegnerischen Spieler abzuwenden. Weitere Konsequenzen, außer vielleicht eine Ermahnung seitens des Stadionsprechers, hatte das damals nicht. Ich habe meine Bildersammlung nach einer solchen Situation durchsucht aber leider nichts gefunden. Aber es gibt YouTube und dort fand ich nach einem Hinweis im Forum rapidfans.at ein Video, das die damalige Handhabung ähnlicher Vorfälle zeigt. Am 16.3.2013 fand ein Heimspiel gegen die Admira statt. Nach dem Führungstor von Rapid in der 53. Minute erzielte Quedraogo kurz danach das Tor zum 1:1. In dem fast schon historischen Video können wir fast alle Aspekte des „Skandal“-Derbys vom Sonntag erkennen, nur war damals alles etwas entspannter. Der Admiraner freute sich natürlich über das Tor und zeigte diese Freude demonstrativ vor dem Block. Die Folge war eine heftige Bierdusche. Seine Freude über das Tor überwog den Ärger über die Bierdusche bei Weitem und er ertrug sie mit Humor. Auch der Schiedsrichter machte den Eindruck, als wäre er froh, dass die Sache nicht weiter hochgespielt wurde. Sogar der Vorwurf der Provokation durch den Spieler wird angesprochen, also alles Elemente, die wir bei den vergangenen zwei Heimderbys wieder erlebt haben. Link zum Video. Der Block hat sich seit diesen Tagen sicher nicht extrem verändert. Viele, die gerne im Block stehen, sind dazu gekommen. Die Feuerzeugwerfer von heute setzten nur ein Verhalten fort, das sie vom alten Hanappi-Stadion kennen. Nicht sie haben sich verändert sondern der Anspruch der Öffentlichkeit ist ein anderer geworden. Schiedsrichtern wurden vor der laufenden Saison die Weisung erteilt, dieses Publikumsverhalten besonders zu ahnden. Ich kann mich nicht erinnern, dass man diesen Umstand im Vorfeld gegenüber den Fans besonders kommuniziert hätte. (Dass man Feuerzeuge nicht auf Spieler wirft, will ich damit nicht entschuldigen, doch „dem Kind“ muss das erst einmal klar gemacht werden.)

Wie ist es anderswo?

Bei unseren Fahrten nach England, in das Mekka der Fußballer, wurden unsere Erwartungen enttäuscht. Ja, die Stadien sind voll, der Besuch ist deutlich höher als bei uns. Die Organisation war damals, vor 10 Jahren etwa so wie wir sie heute in Hütteldorf erleben. Aber der Fansupport eines Block-West ist in England nicht gegeben. Unsere späteren Auswärtsfahrten nach Birmingham zeigten, dass die dortigen Ordner mit der österreichischen Auffassung von Fansupport überfordert waren. Vielleicht wären dort auch Feuerzeuge geflogen aber man war einfach zu weit weg vom Geschehen. Aber dass die englische Szene ach so gesittet wäre wie die Journalisten immer meinen, nein so ist das dort auch nicht. Wenn wir nämlich davon ausgehen, das Fußball für alle da sein soll, dann ist er das in England sicher nicht, wenigstens nicht der in dern oberen Ligen. Ende der 80er-Jahre, nach der Heysel-Katastrophe und der Hillsborough-Katastrophe wurde der englische Fußball komplett umgekrempelt. Durch enorm hohe Preise und rigorose Aussperrungen ist der englische Fußball der oberen Ligen „clean“ und frei von Feuerzeugwerfern. Was wir bei uns als Fangruppierungen kennen, konnten wir dort nicht erkennen, denn Fahnen und Transparente sind in England sehr selten zu sehen. Aber natürlich sind die weniger handlichen Schichten immer noch existent, sie wurden nur in die unteren Ligen verbannt. Die Bild-Zeitung vom 9.2.2008 berichtet mit „Hooligans werfen schlechtes Licht auf englischen Fußball“ über das Cupspiel Westham-Millwall, bei dem Augenzeugen über kriegsähnliche Zustände in der Vorstadt berichtet wird. Und die Kinder der Heysel-Generation, ausgesperrt vom Fußballgeschehen, ziehen plündernd und prügelnd durch die Vororte der Großstädte in England. (Siehe auch „Vor dem Spiel des Jahres“ vom 29.8.2012 im Tagebuch.) Wenn also die soziologisch Uninteressierten Journalisten und die Bundesliga radikale Aussperrungen verlangen, dann bedeutet das das Ende des „Fußballs für alle“. Die Ausgesperrten sind dann zwar nicht im Stadion aber sie werden in Deine und Meine Wohnumgebung jene Unruhe hineintragen, die sie im Stadion nicht mehr ausleben können. Und in Deutschland? Die Fankultur in Deutschland liegt der unsrigen viel näher. Der Fanblock von Rapid ist der einzige in Österreich, der sich mit jenen in Deutschland messen kann. Und die Probleme sind da wie dort sehr sehr ähnlich. Die Phase der Feuerzeugwerfer dürfte man in Deutschland schon überwunden haben, doch an anderen Fronten fühlen sich die Verhältnisse in Deutschland nicht viel anders an als hier in Österreich. Spiegel-Online vom 6.2.2017 berichtet über „Asoziales, widerliches Gewaltverhalten“ beim Spiel BVB-Leipzig. Wenn uns also Journalisten erklären wollen, dass es anderswo besser wäre, dann ist das eher ein ungeeignetes Argument. Aussperrungsmaßnahmen erinnern an den Unterschied zwischen Gesamtschule und differenzierender Schule. Wenn ein Schüler im Gymnasium nicht entspricht – warum auch immer – gibt es mit der Hauptschule immer noch eine Schublade weiter unten, in die er abgeschoben werden kann, die wieder verschiedene Leistungsstufen kennt und wenn es dann gar nicht geht, ab in die Sonderschule. Na, und Kinder mit Beeinträchtigungen kommen in diesem Konzept überhaupt nicht vor. Genau so funktioniert Gesamtschule nicht, eine echte Herausforderung für die Schule aber mit dem großen gesellschaftlichen Vorteil, dass Schüler (und Lehrer) viel eingehender lernen, was in einer Gesellschaft alles möglich ist und man bereits als Kind lernt, mit allen diesen Facetten umzugehen.

Wie werden Rapidler sozialisiert?

Wir, auf der Osttribüne fragen uns, wie es passieren kann, dass jemand so durchdreht, dass er etwas auf Spieler wirft. Man meint, man wäre selbst ganz anders. Nun, einige Reihen vor mir steht ein Typ immer wieder auf und deutet drohend in Richtung Auswärts-Fanblock. Es wird geschimpft, die Gesten sind eindeutig. Man ist erregt, die vier Bier, die man intus hat, erleichtern es, sich etwas anders als im Alltag zu benehmen. Meine Schätzung: würde man diesen schon etwas angeheiterten Zuschauer in die Zone stellen, wo er einen Spieler treffen könnte, ich glaube er wäre mit von der Partie. Also es sind sicher nicht nur „die auf der West“; das Potenzial dazu steckt möglicherweise in allen von uns. Ob das dann ausbricht, hängt auch vom Umfeld ab, dass solche Reaktionen erschwert (wie auf der Ost, denn dort macht bei diesen aggressiven Gesten praktisch niemand mit) oder erleichtert (wie auf der West, denn dort ist die Relation genau umgekehrt, dort sind nämlich die Besonnenen eher in der Unterzahl). Würden wir durch organisatorische Maßnahmen dafür sorgen, dass das Stadionpublikum durchmischt ist, dass es also keine Konzentration von „Grenzüberschreitern“ auf den Tribünen gäbe, nichts würde je geworfen werden. Das ist ganz ähnlich wie bei der sozialen Durchmischung in Wien, die von der Gemeinde seit 100 Jahren mit großem Erfolg praktiziert wird. Dass der Block Rapidler anzieht, das sieht man am großen Ansturm um vergleichsweise schlechte Plätze. Für einen solchen Stehplatz muss die eigene Biografie passen. Meine passt nicht. Man muss schon einen leichten Hang zur kontrollierten Anarchie haben, wenn man sich dem Block in einer der Gruppierungen anschließt. Warum „kontrollierte Anarchie“? Meine Interpretation der Funktion dieser Gemeinschaften ist, dass hier kollektive Grenzüberschreitungen praktiziert werden, die etwas nachholen, was andere in ihrer Kindheit straffrei hinter sich gebracht haben. Die Einsicht, dass es Grenzen gibt, an die wir uns zweckmäßigerweise halten sollen, hat sich zu ihnen nicht durchgesprochen. Sie suchen daher diese Grenzen ziemlich verspätet und finden sie in der Entrüstung des Publikums beim Werfen von Feuerzeugen und Schütten von Bier. Sie suchen diese Grenzen natürlich auch anderswo, teilweise auch im Rahmen der sonstigen Abenteuer des Blocks, aber das sind alles Grenzüberschreitungen in Richtung „illegal“ wie zum Beispiel Graffiti, Drogen, Alkohol, Pickerlmanie, Nazidiktion usw. Sagt nicht, dass es nicht so ist. Hier nur zwei Beispiele: „Gegen Alle und Jeden“ „Es muss eskalieren!“ Weiter hinten ist noch ein besonders unappetitliches Beispiel dieser Auswüchse herausgegriffen. Solltest Du im Block stehen und meinen, dass das in Deinem Fall nicht so wäre, dann gebe ich Dir recht, allerdings nur statistisch, denn selbstverständlich passt dieses Modell durchaus nicht auf jeden, der dort steht, aber im Großen und Ganzen deuten alle Aktivitäten in diese Richtung. Was die Feuerzeugwerfer tun, entspricht dem „Geschäftsmodell der kollektiven Grenzüberschreitungen“ der Fangruppen im Block-West und wird durch die Gruppen gedeckt, ja gut geheißen. Deshalb steht man ja auch im Block. Deshalb gibt es auch seitens der Capos keinen Ordnungsruf. Schauen wir in die Zukunft, nachdem Stadionverbote und Strafen ausgesprochen worden sind. Wir können jetzt schon die Plakate sehen, die da lauten „Gegen Stadionverbote“, „Ausgesperrte mit uns“ oder „Diffidati“. Und das bedeutet, dass der Block natürlich solidarisch mit den Feuerzeugwerfern ist. Würden wir die Macht haben, die Werfer in den ersten Reihen wie durch Zauberhand zu entfernen, sie würden nahtlos durch die Nachrückenden in den hinteren Reihen ersetzt werden. Leider kennen wir nicht allzuviele Möglichkeiten, solche Verhaltensweisen von einem Tag auf den anderen zu ändern. Auch wenn wir gar nichts tun, würde das nächste Heimspiel gegen Sturm mit einer ziemlichen Sicherheit keine solchen Probleme wie beim Derby zeigen. Geldstrafen und Stadionverbote mögen eine gewisse abschreckende Wirkung haben aber nur, wenn die Verurteilung publikumswirksam zelebriert wird. Hinter verschlossenen Türen abgehandelt, sind solche Maßnahmen aber wenig erfolgversprechend.

Stadionsperre oder Sektorsperre

Nach den Ausschreitungen in Saloniki im August 2012 wurde Rapid von der UEFA mit einem Geisterspiel (+75.000 Euro) bestraft. Nach dem Platzsturm beim Heimderby am 22.5.2011 hat die Bundesliga ebenfalls ein Geisterspiel verordnet, obwohl doch eindeutig zu erkennen war, dass ausschließlich Besucher aus dem Block-West dafür verantwortlich waren. Nach dem „Skandal“-Derby vom letzten Wochenende kann man etwas Ähnliches erahnen, doch scheint mir ein Geisterspiel – so wie 2011 – wenig treffsicher, denn dass der Block eine Mitverantwortung für die Werfer hat, ist ja offensichtlich an dessen Reaktionen ablesbar.

Späte Sozialisierung

Kinder loten immer wieder ihre Grenzen aus. Und es ist die Pflicht der Eltern, ihren Kindern zu sagen, was geht und was nicht geht und auch in diesem gesellschaftlichen Kleinmodell der Familie gibt es alles das, was wir jetzt, mit etwas Verspätung in Hütteldorf erleben. Der Präsident (=die Eltern) spricht aus, dass die rote Linie überschritten wurde und dass jetzt durchgegriffen wird. Grenzen eben. Aber warum erleben wir das gerade jetzt? Ich schätze, dass es eine Folge der 1968er-Bewegung und der danach folgenden Phase der antiautoritären Erziehung ist. Weil die Eltern (damals als Gegenbewegung zu einer autoritären gesellschaftlichen Haltung) nicht bereit waren, ihren Kindern Grenzen aufzuzeigen, bedeutete ja nicht, dass diese die Suche nach Grenzen aufgegeben hätten, und sie suchen nach der Abnabelung vom Elternhaus nach Grenzen, die sie bis dahin nicht erlebt haben und tun das in Gemeinschaften, deren Mitglieder eine ähnliche Sozialisation erlebt haben. Das könnten die Kondensationskeime der ersten Generation von Block-West-Stehern vor 30 Jahren gewesen sein. Wir können also das Verhalten des Blocks als eine solche späte Suche nach Grenzerfahrungen interpretieren.

Die Kinder des Blocks

Es gibt einerseits eine Zuwanderung in den Block, anderseits sorgt der Block selbst für Nachwuchs. Es vergeht fast kein Spiel, dass nicht ein Kevin oder eine Sarah willkommen geheißen wird. Die Ultras feiern in diesem Jahr ihr dreißigstes Bestandsjahr und das erinnert uns, dass die damals halbwüchsigen Gründer heute die Elterngeneration darstellen und bereits ihre Kinder das Blockverhalten „mit der Muttermilch“ mitbekommen haben. Ein Erlebnis bei Autobusfahrten hat mir das bewusst gemacht. Mutter und Sohn, beide Block-West-Steher. Der Sohn, ausgerüstet mit Unmengen an Pickerln, sorgt dafür, dass niemand die Rapid-Duftmarken an den Parkplätzen, den WC-Anlagen übersehen kann. Und die Mutter hat dazu rein gar nichts zu sagen, denn sie ist ja selbst diesem Biotop entsprungen. Man wird sozialisiert, ob man es will oder nicht. Die Frage ist nur, durch welches Umfeld.

Wortspenden

Allein die undifferenzierten Beurteilungen der Situation bei Rapid oder gar Wortspenden unseres Gegners sind ziemlich entbehrlich. Keiner aus dem Kreis der Besserwisser kann auf irgendwelche Qualifikation in der Fanarbeit in dieser Größenordnung hinweisen. Absurd muss die Situation in der Bundesliga sein, wenn 9 Vereine, die solche Probleme nicht kennen, sich über die „Zustände“ bei Rapid entrüsten. Hans Krankl zum Beispiel meint in Österreich Rapid hat bei der Fan-Problematik viel zu lange nur zugesehen. Da ich ja alle Heimspiele und viele Auswärtsspiele besuche, weiß ich nicht, was genau da gemeint ist. In den letzten 100 Spielen wäre mir nicht aufgefallen, dass Handlungsbedarf bestanden hätte. Aber vielleicht sind es ja eher Kleinigkeiten, über die man gerne hinweg sieht, die dann aber in eskalierenden Situationen ihre indirekte Wirkung haben. Im nächsten Abschnitt wird so eine „Kleinigkeit“ beschrieben.

Es sind alle aus demselben Holze geschnitzt!

Für einen Nicht-Block-Steher sind gewisse Derby-Gesänge nur schwer auszuhalten. Ginge es beim eigenen Besuch nicht darum, Rapid zu unterstützen, man müsste eigentlich aus Protest das Stadion verlassen, um diese von niemandem, weder vom Vorstand noch von der Presse  in irgendeiner Form widersprochenen, unappetitlichen Nazi-Rülpser anhören zu müssen. Beginnen die Gäste mit „Rapid verrecke“ dauert es nicht lang, dass der Block mit „Schlagt die Austria tot“ antwortet. Hier ein Auszug aus dem Buch „Wie lange dauern Tausend Jahre?“ von Vera Studier, 2002:

ERSTES KAPITEL „SCHLAGT DIE JUDEN TOT!“ Der Kurfurstendamm hallte wider von den Schreien der Männer, die mit hoch erhobenen Knüppeln vorwärtsstürmten. Der Ruf ertönte, wie von einem Echo zurückgeworfen, auch aus den Nebenstraßen, schien ganz Berlin zu erfüllen in dieser Nacht des Terrors. Seit Stunden standen die Horden bereit und hörten nun ohne Trauer, vielmehr frohlockend: der Legationsrat der Deutschen Botschaft. Emst vom Rath, in Paris von einem jüdischen Attentäter niedergestreckt, ist seinen Verletzungen erlegen. Nun war endlich die Zeit gekommen, die halbherzigen Maßnahmen zu beenden und das einzig richtige Mittel im Kampf gegen die Juden anzuwenden: Gewalt! ..SCHLAGT DIE JUDEN TOT!“ Steine ftogen in die Fenster jüdischer Läden, und das Knirschen der stampfenden Füße auf dem verstreuten Glas bildete die Begleitmusik zu den lärmenden Stimmen. Juden, die versuchten, ihr Eigentum zu verteidigen, wurden niedergeprügelt und dann gezwungen, vor den Zerstörern herzumarschieren. Ihre Gesichter zeigten die unterschiedlichsten Empfindungen: Fassungslosgkeit, Ekel, Zorn. Und Angst. Angst, die sie lähmte, gehorchen ließ, sie hilflos jeder Demütigung preisgab.

Hier ein Auszug aus einem Bericht der Zeitzeugin Gerda Lott „Von der Machtergreifung Hitlers bis zur Kristallnacht“:

… Juden sind der „Todfeind der arischen Menschheit“ hatte Adolf Hitler in „Mein Kampf“ geschrieben. „Deutschland erwache! Juda verrecke!“ rief die SA, wenn sie auf Lastkraftwagen durch die Straßen fuhr. In unserer Straße waren alle vier Leipziger Tageszeitungen ausgehängt, vor denen sich Gruppen von Arbeitslosen versammelten, um sich über die Tagesneuigkeiten zu informieren. Lange vor der Machtübernahme war eine fünfte dazu gekommen, vor der ich aber selten Leser stehen sah. Es war der „Stürmer“, in dem Juden in Wort und Bild diffamiert wurden. Ein übles Blatt, fand ich. Nicht so der Direktor unserer Hochschule, der uns dessen Lektüre als Arbeitsmittel für das Fach „Rassenkunde“ wärmstens empfahl. Eine Episode aus der Zeit der Boykottierung jüdischer Geschäfte: Eine der großen Schaufensterscheiben des Kaufhauses „Uri“ – am ehemaligen Königsplatz zwischen Wächterstraße und Nonnenmühlgasse gelegen – war eingeworfen worden, was ich meiner Mutter aufgeregt zurief. Plötzlich drehte sich ein Zivilist in dem Menschenstrom um, versperrte mir den Weg und wies mich scharf zurecht: „Da ist eine Schaufensterpuppe umgefallen!“ Ich war erschrocken, mehr aber noch verblüfft. Was für eine törichte Begründung , die keiner glaubt, dachte ich. …

Es wir eindeutige Nazi-Diktion verwendet aber man sollte daraus nicht den Schluss ziehen, dass in deren Köpfen Nazi-Ideologie steckt. Ich interpretiere das als eine jener Grenzüberschreitungen, die seit Jahrzehnten praktiziert wird und die bisher niemand zuerst verboten und dann bei Nichteinhaltung sanktioniert hätte. Ja, Tausenden kann man schwer Stadionverbot erteilen. Wenn sich dann aber eine kleine Gruppe zu Rapid II verirrt und wiederholt, was sie im Block gelernt haben, dann gibt es Sanktionen. Aber wo sind die Sanktionen gegen solche Sprüche? Nach jedem Derby! Seit Jahrzehnten! Und man sieht an der „gerechten“ Verteilung der Widerlichkeiten auf violett und grün, dass zwischen diesen Blöcken keinerlei prinzipielle Auffassungsunterschiede bestehen. Sie sind alle aus demselben Holze geschnitzt.

Pharisäer

Doppelt so viele Meldungen. Nahaufnahmen vom fliegenden Jägermeisterflascherl und vom sterbenden Schwan. Pauschalverurteilungen von Fans und Vorstand. Die Auflagen der Montagszeitungen und Seitenzahlen im Sportteil deutlich erhöht. Was könnte den Medien besseres widerfahren als ein „Skandal“-Derby. Dem steht gegenüber, dass sich die Medienvertreter in der Pressekonferenz fast könnte man sagen als Sittenwächter aufspielen, was denn der Rapid-Vorstand nicht alles verabsäumt hätte und dass das alles ganz schrecklich sei – in Hütteldorf. Wo waren denn die warnenden Stimmen in den letzten 27 Partien im Allianz-Stadion. Was genau konnte man da beobachten, was alles falsch gelaufen wäre? Genau nichts. Die Fankurve war – insbesondere in der sehr schwierigen Saison 2016/17 außergewöhnlich loyal gegenüber der Mannschaft und dem Verein. Nicht, dass etwas aufgefallen wäre, was einen Anlass dazu gegeben hätte, etwas verbessern zu müssen. Und dann die Vertreter der Gastmannschaft, allen voran der Trainer: „Fink fordert Stadionsperre für Rapid“ Nun, ich behaupte, dass Fußballfans dieser Welt einander ähnlicher sind als es die unterschiedlichen Farben vermuten lassen. Fackeln hüben und drüben, unappetitliche Gesänge, Grenzüberschreitungen in allen Farbschattierungen. Ich habe nicht den Eindruck, als würden sich die Anhänger von Barcelona, Rapid, St.Pölten oder Retz prinzipiell unterscheiden. Aber die Menge macht es, wie sich Einzelne in der Masse fühlen und was sie im Schutz der Gleichgesinnten alles bereit sind zu tun. Bei Retz oder St.Pölten kann man noch nicht von „Masse“ sprechen. Aber in einem 7.000-er-Block zu stehen, unterstützt durch eine ordentliche Bierunterlage, da kommen schon Kräfte auf und niemand denkt da an einen möglichen Regress im Falle einer Strafzahlung. Was man als Amateursoziologe weiß, ist das angedrohte Strafausmaß gar nicht direkt maßgebend für eine eventuelle Unterdrückung eines Vergehens. (Die USA haben einer der höchsten Mordraten und mehr als Todesstrafe geht ja bekanntlich nicht.) Zum Zeitpunkt einer Straftat im Bierrausch oder Affekt  dürfte so ziemlich alles im Hirnkastel abgeschaltet sein, was diese Handlung verhindern könnte. Denn das Feuerzeug wird nur im Zustand der Empfindung der eigenen Mächtigkeit geworfen, weil man meint, man wäre die 7000 und nicht ein Einzelner. Um viel weniger mutig und reuig klingt das Interview der Flitzer vor der Kamera, wenn sie des kollektiven Rückenwinds der Masse beraubt sind. Fragt einmal einen der Werfer allein in einem Gespräch. Nie würde er werfen, im Block tut er es aber schon.

Das Versäumnis der Capos

Unser Präsident hat den während der Spielunterbrechung weitersingenden Block, der in keiner Weise auf die Ermahnungen von Andy Marek reagiert hat, in Schutz genommen. Es mag sein, dass der kontextlose Gesang der Ultra-Idelogie das so fordert. Man geht ja auch während dem Spiel in keiner Weise auf das Geschehen ein, es sei denn, dass man den „Ausgleich“ nach einem Gegentor fordert. Wollte man mit dem Weitersingen andeuten, dass die Werfer ja gar nicht zum Block gehören? Ein Lied ist ja irgendwann zu Ende. Hätte man nicht durch einen Aufruf mit dem Megafon, den Werfern Einhalt gebieten können? Nein, man hätte nicht! Und zwar deshalb, weil eben Grenzübertretungen aller Art – und dazu gehört eben auch der Feuerzeugwurf – zum Repertoire der „schützenswerten Verhaltensweisen“ des Blocks gehören. Man übertritt und dann beschimpft man diejenigen, die sich nicht mehr anderswie als durch Sanktionen zu helfen wissen. Die von Trainer Djuricin geforderte „Selbstreinigung“ kann bei kooperativen Gruppen (wie zum Beispiel einer Schulklasse) funktionieren, in einer Gemeinschaft, die ihr Zusammengehörigkeitsgefühl aus dem Sich-Reiben an den Normen der Gesellschaft bezieht, kann man das nicht erwarten. Im Gegenteil erwartet die Gemeinschaft des Blocks (unausgesprochen) von den anderen Stadionbesuchern und auch von der Vereinsführung Duldung aller ihrer Eskapaden als Gegenleistung zu den durchaus beachtlichen Aufwendungen des Supports und ihres ebenso beachtlichen sozialen Engagements.

Bestrafung

Die Feuerzeugwerfer zeigen uns, dass im Fußball Rechtssprechung weiter geht als in der Welt außerhalb. Ja, der Werfer ist schuld, schließlich kann er ja nicht leugnen, geworfen zu haben. Aber auch der Block ist schuld, denn er toleriert und begünstigt sogar unangepasstes Verhalten, es ist ja sein „Geschäftsmodell“. Man kann durchaus vermuten, dass eine absichtlichen Durchmischung des Publikums statt der gegebenen kastenartigen Aufteilung solche Handlungen verhindern würde. Die Rechtssprechung kann von den Verhältnissen in einem Stadion aber auch lernen, weil man bei genau solchen Vorfällen sowohl von der Schuld eines Einzelnen als auch von der Verantwortung der Gruppe sprechen kann und daher beide, den Werfer und die Gruppe bestrafen kann und soll. Genau das findet aber in der sonstigen Rechtssprechung nicht statt. Verurteilt werden Einzeltäter aber man weiß, dass der Schuldanteil ihres sozialen Umfeldes ebenso gegeben ist, aber das ist nicht bestrafbar. Fast hat man den Eindruck, als sollten Maßnahmen für den Strafvollzug und Maßnahmen für die Beseitigung sozialer Sümpfe aus demselben Geldbeutel finanziert werden müssen, um eine Balance zwischen diesen zusammenhängenden Gebieten zu erreichen. Ein Dokument, das diese Mitschuld der Gesellschaft in beeindruckender Weise zeigt, ist die Verteidigungsrede des Räuberhauptmanns Grasel, nachzulesen in der Speisekarte der Graselwirtin am Rande des Waldviertels, kurz von Horn:

„Hätte mich damals die Herrschaft zu einem rechtschaffenen Manne in die Erziehung gegeben, der mir etwas hätte lernen lassen, so wär ich in mein gegenwärtiges Unglück nicht gekommen, denn ich hätte des böse Beyspiel meines Vaters, meiner anderen Anverwandten und Kameraden nicht gesehen; so aber bin ich ganz in meiner Erziehung vernachlässigt worden, denn mein Vetter in Serowitz war nicht im Stande, mir irgendeinen Unterricht in der Religion, im Lesen. Schreiben und dergleichen zu ertheilen, sondern ich musste mit ihm und seiner Mehm betteln herumgehn, so wie ich dieses mit meiner Mutter that“ Johann Georg Grasel bei seinem Verhör am 20 2 1816

Aus diesem Grunde der kollektiven Mitverantwortung einer Gruppe ist eine Bestrafung der Werfer aber auch der Gruppe anzuraten.

Was hätte man besser machen können?

Wenn wir das Gesellschaft-Eltern-Kind-Modell als Bundesliga-Verein-Fanblock abbilden, dann haben die Eltern nach den ersten Feuerzeugwürfen im ersten Heimderby nach dem Laissez-Faire-Prinzip gehandelt und eine Strafe der Gesellschaft für das Vergehen der Kinder hingenommen und die Kinder in keiner Weise an dem Problem beteiligt. Stellt Euch vor, Rapid hätte damals für das nächste Spiel gegen Sturm eine Sperre des Block verfügt – also ganz ohne Zutun der Bundesliga. Die Kosten wären überschaubar gewesen, die „Kinder“ hätten geschmollt, vielleicht bei den folgenden Spielen die Choreografie ausgesetzt, aber es wäre ein Lernprozess eingeleitet worden. Das ist aber nicht geschehen, und je mehr Zeit ohne Reaktion vergeht, desto schmerzlicher der Lernprozess – für beide, für Verein und Block und eventuell sogar für Unbeteiligte wie die Ost-, Nord und Westtribüne.

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